Einführung in Gestalt

"Etwa fünfzehn Zentimeter lang. Ein rotes, gefaltetes Gebilde mit einem geraden grünen Anhängsel."
"Riechen Sie doch mal dran", schlug ich vor.
"Herrlich!" rief er. "Eine junge Rose, welch ein himmlischer Duft."
Nach O. Sacks: Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte

Es hatte den Anschein, als vermittelte sich ihm die Realität nicht über den Gesichts-, sondern über den Geruchssinn.

Wir begegnen Tag für Tag Millionen von Formen und können sie nur registrieren, indem wir sie zu Gestalten ordnen. Erst wenn es uns gelingt, bestimmte Formen als sinnvoll strukturiertes Ganzes wahrzunehmen, erkennen wir eine Gestalt.

Auch eine Situation ist eine Gestalt. Manchmal fehlt ihr etwas, das Ende vielleicht, oder wir vermissen einen Sinn. Dann grämen wir uns und suchen nach dem, was uns fehlt.

Eine unvollendete Situation ist eine unvollendete Gestalt. Typische Beispiele hierfür sind: ein abgebrochener Streit, eine unerledigte Arbeit, ein unterbrochener Liebesakt. Die Unvollständigkeit schmerzt. Solche Gestalten ziehen weiterhin Aufmerksamkeit auf sich. Sie stören die Möglichkeit, sich mit ganzer Energie etwas Neuem zuzuwenden.

Philosophie von Gestalt

Leben wird als ein kontinuierlicher Wachstumsprozess verstanden. In ihm verwandelt sich die Abhängigkeit des Kindes in Selbständigkeit. Die Entfaltung der Persönlichkeit steht im Vordergrund und nicht das Erreichen von bestimmten gesellschaftlichen Normen.

Bei der inneren Haltung geht es um die Art und Weise, mit der Umwelt und sich selbst in Kontakt zu treten und in Kontakt zu sein. Kontakt setzt vorurteilsfreies Interesse voraus, Neugier auf das Unbekannte und Freude daran, sich neuen Situationen zu stellen.

Nur im Kontakt mit sich selbst und dem jeweils Anderen ereignen sich Wachstum, Entwicklung, Heilung und Sinnfindung.

 

Geschichte von Gestalt

Gestalt wurde in den 50er Jahren von Fritz Perls zusammen mit Laura Perls und Paul Goodman entwickelt und ist seit den 70er Jahren in Europa etabliert.

Die philosophischen Wurzeln der Gestalttherapie entstammen den geistigen Strömungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Zu nennen sind hier vor allem die Psychoanalyse, die Gestaltpsychologie, die Phänomenologie, der Existenzialismus, der Buddhismus und die Humanistische Psychologie. Auf dieser Grundlage ist ein neues Verständnis von geistiger Gesundheit, Persönlichkeitsbildung und Wachstum entwickelt worden.

Gestalt hat sich zunächst entwickelt als Gestalttherapie, eine Form der Psychotherapie. Mittlerweile hat sie in die verschiedensten Berufsfelder Eingang gefunden wie z.B. die Gestaltpädagogik und Gestaltberatung. Sie hat sich als wirksamer Ansatz erwiesen in der Arbeit mit Einzelnen wie auch mit Paaren, Gruppen und Organisationen.

 

Gestalttherapie

Gestalttherapie ist mehr als eine Methode. Sie ist eine Haltung, der ein ganzheitliches Verständnis vom Menschen zugrunde liegt. Sie begreift den Menschen als eine Einheit von körperlichen, geistigen und seelischen Prozessen. Aus ihrer Sicht ist der Mensch fähig zur Selbstregulierung und zu persönlichem Wachstum. Die Gestalttherapie richtet deshalb ihre Aufmerksamkeit auf die Förderung von Bewusstheit und Achtsamkeit, um es dem Menschen zu ermöglichen, sein Leben selbstverantwortlich zu gestalten.Die lebendige Interaktion zwischen Patient:in / Klient:in und Therapeut:in / Berater:in steht im Zentrum des therapeutischen Prozesses. Die persönliche Lebensgeschichte mit ihren sozialen Bedingungen hat ihren Stellenwert als Hintergrund für das Geschehen im Hier und Jetzt.

Zum Weiterlesen

Einführende Literaturempfehlungen

  • Beisser, Arnold: Wozu brauche ich Flügel?
    Ein Gestalttherapeut betrachtet sein Leben als Gelähmter. Peter Hammer Verlag 1997
    (Beisser hatte an der Stanford Universität Medizin studiert und gerade die nationalen Tennismeisterschaften gewonnen, als er im Alter von 25 Jahren an Kinderlähmung erkrankte und fast vollständig gelähmt wurde. In seinem Buch schildert Beisser eindrucksvoll seine Versuche, mit diesem radikalen Einschnitt in sein Leben fertig zu werden. Im Anhang interessant der Text zur „paradoxen Theorie der Veränderung“)

  • Doubrawa, Erhard / Blankertz, Stefan: Einladung zur Gestalttherapie
    Eine Einführung mit Beispielen. gikPRESS 2018
    (eine kleine – leicht zu lesende – Einführung in die Gestalttherapie)

  • Perls, Frederick S: Gestalt-Wahrnehmung. Verworfenes und Wiedergefundenes aus meiner Mülltonne
    Verlag: humanistische Psychologie, 1981

  • Perls, Laura: Leben an der Grenze: Essays und Anmerkungen zur Gestalttherapie
    Edition Humanistische Psychologie 1989

  • Staemmler, Frank-M.: Was ist eigentlich Gestalttherapie?
    Eine Einführung für Neugierige. EHP: Edition Humanistische Psychologie 2009

Grundlagenliteratur für die Ausbildung

  • Perls, Frederick S./ Hefferline, Ralph E./Goodman, Paul: Gestalttherapie. Grundlagen der Lebensfreude und Persönlichkeitsentfaltung
    Klett-Cotta. 7. Auflage (neu übersetzt): 2006
    (Grundlagenwerk)

  • Perls, Frederick S./ Hefferline, Ralph E./Goodman, Paul: Gestalttherapie, Zur Praxis der Wiederbelebung des Selbst
    Klett-Cotta. 9. überarbeitete Auflage: 2007
    (Band II zum Grundlagenwerk: praktische Experimente zur Anwendung der Gestalttherapie)

  • Dreitzel, Hans Peter: Gestalt und Prozess
    Eine psychotherapeutische Diagnostik oder: Der gesunde Mensch hat wenig Charakter. EHP – Edition humanistische Psychogogie 2004
    (Einführung in die Gestalttherapeutische Diagnostik – einfacher zu lesen als das Grundlagenwerk, z.T. etwas vereinfachend)
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